Mittwoch, 29. Juni 2022

New Waves Day 2022; Turbinenhalle; Oberhausen


[Festival] New Waves Day

18. Juni  2022
Turbinenhalle, Oberhausen

Wie so viele andere Karten auch hängt das Ticket zum New Waves Day schon seit geraumer Zeit an meiner Pinwand und setzt Staub an. Doch nach zweijähriger Wartezeit sollte dem Festival in der Oberhausener Turbinenhalle nichts mehr im Wege stehen. In der Zwischenzeit hatte sich das Line-Up mehrfach geändert. Dies schreckte mich allerdings nicht ab – die beiden Sachen, auf die es mir ankam standen weiterhin ganz oben.
Nun musste ich mich nur noch um die logistischen Details kümmern. Ein Zimmer im In Hostel Veritas war schnell gefunden: Günstig, zentral gelegen und in Laufweite des Veranstaltungsortes. Für Hin- und Rückfahrt sollte das theoretisch großartige 9€-Ticket zum Einsatz kommen. In der Praxis gestaltete sich die Anreise jedoch als mittelschwere Katastrophe, die nicht nur mein Nervenkostüm übel zerrüttete, sondern auch den Zeitplan für den Abend komplett über den Haufen warf. Das nächste Mal nutze ich dann doch lieber wieder mein Auto!

Das Festival

Die kurze Strecke von meiner Unterkunft zur Turbinenhalle lege ich zu Fuß zurück. Angesichts der prallen Sonne und Temperaturen jenseits der 30° Celcius nicht unbedingt die beste Idee. Bis zur Öffnung der Tore ist es noch ein bisschen hin und ich geselle mich zu einigen anderen Festivalgängern, die einen der wenigen schattigen Plätze auf dem Gelände gefunden haben. Hier machen bald die ersten Gerüchte von der Absage von Blancmange und einer Änderung der Running Order die Runde.

Glücklicherweise findet der Einlass dennoch bereits um 14 Uhr statt und so bringe ich mich vor der Mittagssonne in Sicherheit. In Form von ausgedruckten, an verschiedene Wände geklebten Seiten gibt es auch eine ausführliche Erklärung zur Situation. Durch zahlreiche Flugausfälle in Großbritannien konnten Blancmange nicht hinüber aufs Festland kommen. Für Zug oder Auto waren diese Ausfälle zu kurzfristig - daher wird der Auftritt ersatzlos gestrichen. Schade, aber leider nicht zu ändern.

Die Zeit bis zum Konzertauftakt nutze ich, in dem ich mich zuerst mir Verzehrbons versorge, solange der Ansturm noch überschaubar ist. Eine Sache, die ich im letzten Jahr beim Etropolis gelernt habe. Nachdem ich einen Teil der Bons direkt in Flüssigkeit umgesetzt habe, verschaffe ich mir einen ersten Überblick. Im Eingangsbereich der Stand mit den Bons, eine Bar und das Merchandise. Hinten in der Ruhehalle haben sich einige Freßbuden und zwei Stände mit „schwarzem“ Krimskrams, Platten, Kleidung und Dekosachen eingerichtet.


Kurz nach 15 Uhr gehen Reptyle auf die Bühne. Das Quintett aus Bielefeld spielt gitarrenlastigen Goth Rock, wie er in den frühen 1990er angesagt war. Der Schwerpunkt des gut halbstündigen Sets liegt auf dem, im letzten Jahr erschienenen, Album Decrypt the Void. Aber auch das eine oder andere Stück aus der mittlerweile 20jährigen Bandgeschichte kommt zu seinem Recht. Die Zuschauerresonanz ist verhalten, wirkliches Gedränge herrscht in der Halle auch noch nicht. Mir gefällt der Auftritt ganzgut - zum einen mag ich den Stil der Band, zum andern tut es einfach wieder einmal gut, auf einem Festival zu sein.

Die halbstündige Umbaupause finde ich persönlich etwas zu lange - immerhin haben wir ja noch ein sportliches Programm vor uns. Dennoch nutzte ich die Pause, um meinen Getränkevorrat wieder aufzufüllen. Die Temperatur in den Hallen ist mittlerweile merklich angestiegen, aber immerhin ist man vor der knallenden Sonne draußen in Sicherheit.


Obwohl noch ein wenig Zeit ist, mache ich mich schon relativ früh wieder auf den Weg in die große Halle. Ein hübsches Plätzchen direkt am Gatter ist schnell gefunden. Whispers in the Shadow hatte ich zu Beginn ihrer Laufbahn öfter live gesehen und die Band in guter Erinnerung behalten. Auch hier bekommt der Hörer ein sehr Gothic-lastiges Set geboten, großzügig angereichert mit einigen Wave-Elementen. In Ermangelung wirklich neuer Veröffentlichungen muss altes Material, darunter der eine oder andere kleinere Club-Hit, herhalten - was aber nicht negativ auffällt. Die Band liefert insgesamt einen ordentlichen, relativ schnörkellosen Auftritt ab. Nur schade, das sich immer noch wenige Besucher in die Turbinenhalle verirren. Für den zweiten Teil des Sets verlasse ich das direkte Bühnenumfeld und suche mir ein Plätzchen in der Nähe des Mischpultes. Hier ist der Sound merklich besser - besonders Keyboards und der Gesang kommen zur Geltung. Nach gut einer Dreiviertelstunde ist der Auftritt vorbei und wieder ist eine halbe Stunde für den Umbau veranschlagt.

Zeit genug, um mir das Essensangebot in der Ruhehalle näher anzuschauen. Da ich aus meinen Fehlern gelernt habe, frage ich zuerst einige der anderen Konzertbesucher nach ihrer Meinung. Hier wird mir übereinstimmend von den Nudeln abgeraten, dafür seien Pizza und Pommes durchaus empfehlenswert. Ich entscheide mich für die frittierten Kartoffelstäbchen - zu einem sehr annehmbaren Preis. Der Genuss hält sich zwar in einem überschaubaren Rahmen, aber die liefern ausreichend Salz, Kohlenhydrate und Fett. Derart gestärkt gönne ich mir noch einen Becher Wasser und mache mich wieder auf den Weg zur Bühne.


Mittlerweile ist merklich mehr los - dennoch erreiche ich meinen "Stammplatz" ohne größere Probleme. Der Soundcheck ist zwar noch in vollem Gang, wird aber quasi mit in das Set von And also the Trees eingebaut. Zugleich präsentiert die Band ein optisches Novum: Sänger Simon Jones trägt tatsächlich ein weißes Hemd! Bisher waren die Musiker (und fast das komplette Publikum) ausschließlich in schwarz gewandet. Musikalisch ist die dienstälteste Band des Festivals eher im Bereich des Post Punk anzusiedeln. Allerdings wird den Keyboards viel Raum gegeben und auch eine Klarinette kommt gelegentlich zum Einsatz. Die Vocals, mehr gesprochen als gesungen, sind in meiner Ecke der Bühne kaum zu verstehen, so dass ich mich schon bald wieder in Richtung Mischpult aufmache.

Mittlerweile macht mir mein ein wenig Kreislauf zu schaffen, so dass ich den Rest des Sets von außerhalb der Halle höre. Die Sonne hat sich zwischenzeitlich weitgehend hinter den Gebäudekomplex verzogen und es mangelt nicht an Schatten - ich finde sogar eine Sitzgelegenheit. Zusammen mit der (erneut) halbstündigen Umbaupause verschafft mir das Gelegenheit, mich ein wenig zu erholen.


Um den Auftritt der nächsten Band vorzubereiten, haben die Roadies alle Hände voll zu tun. The Cassandra Complex fahren schweres Gerät auf. Übermannsgroße Scheinwerferkonstruktionen und eine erhöhte Plattform für die Elektronik machen optisch etwas her. Zumindest zwei Drittel der Halle sind gut gefüllt, als die vier Musiker die Bühne betreten. Die letzte Veröffentlichung der Band, das Album The Plague, ist erst wenige Wochen alt. Entsprechend liegt hierauf der Schwerpunkt des, ebenfalls 45minütigen, Sets. Der etatmäßige Gitarrist ist am gleichen Tag Vater geworden, deswegen muss ein Ersatzmann in die Saiten greifen. Dieser macht seine Arbeit durchaus ordentlich und liefert zugleich einige lockere Show-Einlagen. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Sängern sucht Rodney Orpheus den Kontakt mit dem Publikum und hat zu fast jedem Stück eine Kleinigkeit zu erzählen. Das gestaltet den Auftritt sehr kurzweilig und macht zudem die Band sympathisch. Neben dem schon erwähnten neuen Material gibt es auch das eine oder andere ältere Stück zu hören. Der Schwerpunkt der Musik liegt auf der Elektronik, aber auch rockige Elemente haben ihren Platz.

Direkt nachdem die Band sich in den Backstage-Bereich verabschiedet hat, betritt eine Mitarbeiterin des Veranstalters mit unglücklichem Gesichtsausdruck die Bühne. Die Dame hat anscheinend das kurze Streichholz gezogen und verkündet, dass The Damned aufgrund zweier Corona-Fälle nicht auftreten können. Das sorgt beim Publikum für lange Gesichter - sind doch einige Besucher (beispielsweise ich) in erster Linie deswegen hier. Ein Ersatz ist in der Kürze der Zeit natürlich auch nicht zu finden - so bleibt nur, zu improvisieren. Das Set der kommenden Band wird deutlich verlängert und der Hauptact vorgezogen. Und um auch den Ausfall der dritten Band zu kompensieren verspricht der Veranstalter, sich etwas zu überlegen...


Entsprechend ist meine Stimmung beim nachfolgenden Auftritt von Pink Turns Blue etwas gedrückt. Das Trio um Sänger Mic Jogwer liefert eine solide Show, bekannte Stücke wechseln sich mit neuem Material ab. Allerdings kommt bei meinem Standort am Gatter praktisch kein Gesang an. Erst nach einem Wechsel in den Innenraum der Halle wird der Sound deutlich besser. Das Publikum feiert die Band nach Kräften, was von dieser jedoch weitgehend ignoriert wird. Die drei Musiker spielen stoisch ihr Programm herunter. Insgesamt fühlt sich dieser Auftritt für mich eher merkwürdig an - ich mag die Musik, aber wirklich Stimmung will (zumindest bei mir) nicht aufkommen. Dennoch warte ich geduldig und werde mit Stücken wie "Walking on both sides", "Your Master is calling" und "Michelle" zum Abschluss belohnt. Das versöhnt mich wieder ein wenig mit der Band.

Während der letzten Umbaupause ertränke ich meinen Frust über den Ausfall von The Damned in noch mehr Wasser. Mittlerweile ist die Turbinenhalle so aufgeheizt, dass ich es praktisch sofort wieder ausschwitze. Auf dem Weg vor die Bühne fallen mir die zahlreichen zertretenen Kunststoff-Becher auf, die überall herumliegen. Die wenigen, ungünstig verteilten Mülleimer sind schon lange voll und da es kein Pfand gibt, lassen die Besucher sie einfach an Ort und Stelle fallen. Ich bin sicher, dass es dafür eine Lösung gibt, die diese unnötigen Mengen an Plastik-Müll vermeidet.
Auf der Bühne werden hektisch Stahlkonstruktionen umher geschoben, Teppich verlegt und die Strahlerbatterien in Stellung gebracht. Die Roadies haben den wahrscheinlich undankbarsten Job des Abends, sorgen aber routiniert dafür, dass alles reibungslos klappt.


Schließlich ist es soweit und die Lichter verlöschen - bis auf ein bedrohliches rotes Glühen auf der Bühne. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigt, dass die Halle nun fast voll ist. Schlagzeuger und Keyboarder erklimmen ihre jeweiligen Plattformen auch Bassist und Gitarrist nehmen ihre Positionen ein. Endlich betritt Gary Numan selbst die Bühne und eröffnet das Set mit "Intruder", dem Titeltrack seines aktuellen, sehr erfolgreichen Albums. Hier wird auch der größte Unterschied zwischen den vorangegangenen Bands deutlich. Während diese ihrem Stil im Laufe der Jahre weitgehend treu geblieben sind, hat Herr Numans Musik rein gar nichts mehr mit dem unterkühlten Wave vom Beginn seiner Karriere zu tun. Viel mehr dröhnt brachialer Industrial Metal aus den Boxen. Ungewohnt, aber nach den eher dezenten Klängen von Pink Turns Blue eine willkommene Abwechslung. Passend zu den letzten Alben haben Kleidung, Beleuchtung und Show eine post-apokalyptische, dystopische Thematik. Der Sänger tobt, trotz seines fortgeschrittenen Alters, wild über die Bühne und rackert sich am Mikrofon ab. Bassist und Gitarrist stehen dem wenig nach und unterstützen ihren Frontmann nach Kräften. Dieser Wechsel des musikalischen Schwerpunktes macht auch vor alten Hits wie "Cars" oder "Are Friends Electric?" nicht halt. Melodie und Grundstruktur sind zwar noch erkennbar, rocken aber nun genau so, wie der Rest des Sets. Nach gut 90 Minuten und einer längeren Zugabe ist dann jedoch Schluss und die Musiker verabschieden sich von der Bühne. Damit endet auch der offizielle Teil des diesjährigen New Waves Day.

Nachdem ich mir draußen ein wenig die angenehm frische Nachtluft um die Nase habe wehen lassen, schließe ich mich den anderen Konzertbesuchern an und mache mich auf den Weg zur After-Show-Party. Eigentlich ist es nur ein kurzer Fußweg über den Parkplatz bis zum Kulttempel, allerdings versperren Bauzäune die Durchgangsmöglichkeiten. Die Gruppe vor mir löst das Problem auf einfache Weise und wuchtet das Gatter beiseite. Andere folgen diesem Beispiel und schon ist eine Abkürzung geschaffen.
Musikalisch machen die DJs dort weiter, wo der New Waves Day aufgehört hat. Die Stimmung ist gut, die Atmosphäre gemütlich und die Getränke preiswert. Obwohl ich praktisch schon den ganzen Tag unterwegs bin, habe ich dennoch Spaß und halte erstaunlich lange durch. Als ich mich schließlich auf den Weg zu meiner Unterkunft mache, dämmert es bereits.


Wie war's?

Streng genommen hatte der New Waves Day mit der namensgebenden Musikrichtung nicht wirklich viel gemein. Der einzig "echte" Vertreter des Genres, Gary Numan, hat sich musikalisch deutlich weiterentwickelt. Die restlichen Bands waren eher im Gothic Rock oder Post Punk zu Hause. Die Veranstalter haben dennoch ein Line-Up zusammengestellt, dass  etwas für Nostalgiker bereit hält, aber bei weitem keine reine Retro-Show ist. Fast alle Künstler haben in diesem oder dem letzten Jahr neues Material veröffentlicht. Dass drei der angekündigten neun Bands teils extrem kurzfristig ausgefallen sind, war nicht nur für die Besucher ärgerlich, sondern sicherlich auch für die Organisatoren. Denen kann man keinen Vorwurf machen - die aktuelle Situation ist nach wie vor schwierig und unsicher. Einzig die Kommunikation hätte etwas besser sein können. Die Homepage des Festivals, normalerweise meine erste Anlaufstelle für Informationen, lieferte keinerlei Hinweise auf die Verschiebungen und kurzfristigen Absagen. Auch die wenigen Zettel, die in der Halle an verschiedene Wände geklebt waren, konnten das nicht ausgleichen.

Die Stimmung unter den Besuchern war weitgehend gut, die Kommunikation untereinander freundlich und entspannt. Die richtige Atmosphäre für ein kleines, aber feines Festival. Etwas schade fand ich dagegen, dass eine Interaktion der Bands mit dem Publikum praktisch nicht stattfand. Gelegentlich kam ein "Thank You" oder "Dankeschön" oder die Ankündigung eines Titels - die meiste Zeit jedoch spielten die Musiker ihr Programm herunter. Die einzige löbliche Ausnahme davon stellte Rodney Orpheus von The Cassandra Complex dar. Von technischer Seite aus gab es wenig zu meckern. Wie erwähnt war der Sound direkt an der Bühne nicht immer optimal, dafür im Innenraum durchgängig sehr gut.

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