Sonntag, 20. Oktober 2024

Ein Kessel Schwarzes


[Lesung] Ein Kessel Schwarzes

Freitag, 18. Oktober 2024
Das Rind; Rüsselsheim

 

Luci van Org mit ihren zahlreichen Musikprojekten und Erzählungen, Christian von Aster mit seinen Büchern und Kurzgeschichten und Oswald Henke, vor allem durch seine Arbeit mit Goethes Erben, dürften den meisten unserer Leser zumindest vom Namen her bekannt sein. Alle drei habe ich im Laufe der Zeit bereits mehrfach auf Konzerten oder Lesungen gesehen.
Entsprechend neugierig war ich, als im letzten Jahr mit Ein Kessel Schwarzes ein gemeinsames Projekt angekündigt wurde. Der Themenschwerpunkt seinerzeit war "Leichenschmaus" - doch leider versäumte ich, mir rechtzeitig ein Ticket zu organisieren. Als dann im Frühjahr 2024 das zweite Programm mit dem Thema "Familiengericht" in den Vorverkauf kam, beeilte ich mich, eine Karte für einen der drei Auftritte zu bekommen. Glücklicherweise steht neben Bayreuth und Leipzig auch Rüsselsheim auf dem Tourplan. So muss ich mich nicht auf eine Reise durch die halbe Republik machen, sondern nur gut 40 km durch den freitäglichen Feierabendverkehr quälen.

Die Location

Das Rind ist ein gemütlicher, kleiner Club in Rüsselsheim, praktisch direkt am Main-Ufer gelegen. Durch das vielfältige Programm gibt es eigentlich immer einen Grund, dem Ort einen Besuch abzustatten. Der offene Bereich zwischen dem dazugehörigen Restaurant und der Veranstaltungs-Location ist durch zahlreiche Schirme gesichert - was beim einsetzenden Nieselregen durchaus angebracht ist. Gut eine Stunde vor Beginn haben sich hier schon die ersten Gäste versammelt und warten draußen, andere sind im Innern noch mit ihrem Abendessen beschäftigt.
 

Der Bühnenaufbau

Während ich mich mit Freunden unterhalte, wird die Schlange der Wartenden schnell größer und kurz nach 19 Uhr haben die Veranstalter ein Einsehen und lassen uns hinein. Normalerweise fasst Das Rind bei Konzerten exakt 262 Personen. Für Ein Kessel Schwarzes ist diese Anzahl deutlich reduziert. Im ganzen Raum sind kleine, runde Tische mit jeweils vier Stühlen verteilt, so dass das Publikum es sich gemütlich machen kann. Im hinteren Teil haben traditionell Mischpult und Merchandise-Stand ihren Standort - so auch an diesem Abend.
Bevor es losgeht, durchstöbere ich das ausliegende Angebot und finde tatsächlich noch Dinge, die meiner Sammlung fehlen. Nachdem ich an der Theke für eine kleine Stärkung gesorgt habe, begebe ich mich wieder zu meinem Platz, der sich praktischerweise am Bühnenrand befindet.

Ein Kessel Schwarzes

Schon vor dem eigentlichen Beginn des Auftritts kann man die drei Künstler im Raum herumwuseln sehen, bevor sie sich schließlich kurz vor 20 Uhr in den Backstage-Bereich zurückziehen. Das gibt mir Zeit, die Dekoration genauer zu betrachten: ein Tapeziertisch, abgedeckt mit einem schwarzen Tischtuch steht im Zentrum der Bühne. Darauf Kunststoff-Geschirr und ein kleiner Kessel - ebenfalls in Schwarz gehalten. Am rechten Rand stehen Stuhl, Mikrofon und akustische Gitarre, während links, etwas nach hinten versetzt ein Bistrotisch steht. Auch dieser ist mit einem schwarzen Tuch verhüllt und wird von zwei Stundengläsern gekrönt.

Voller Einsatz!
In diese Szenerie treten dann auch recht pünktlich die drei Akteure um in einer kleinen Einleitung ihren Empfang im Das Rind zu loben. In der anschließenden Vorstellung werden die Rollen für den Verlauf des Abends definiert. Herr Henke ist der Miesepetrige, Herr von Aster übernimmt den Part des Humorvollen und Frau van Org ist die Anstrengende bzw. die Musikalische - nur damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Auch wird kurz auf das Programm, das "Familiengericht", eingegangen. Entsprechend beschäftigt sich der erste Teil mit Recht und Gerechtigkeit, während im zweiten Part die Familie im Fokus steht.

Nach dieser kurzen Einleitung nehmen die drei Künstler am Tisch Platz, um die Geschichte vom Zappel-Philipp des Frankfurter Arztes und Autors Heinrich Hoffmann nachzustellen. Am Ende der wortgetreuen Umsetzung und nach einem (altersgerechten) Stunt, ist das Geschirr über die Bühne verteilt, Herr Henke liegt in die Tischdecke gehüllt am Boden und beiden anderen schauen fassungslos auf das Chaos.
Im Anschluss an diese eher lockere, humorvolle Sequenz stellen Frau van Org und Herr von Aster noch einige Fakten zum islamischen Scheidungsrecht und zum Schutz von Frauen vor, bevor sie die Bühne verlassen.

Christian von Aster
Herr Henke, mittlerweile alleine am "Tisch der Wahrheit" (dem Bistrotisch), nimmt die Zuschauer mit auf einen historischen Exkurs zu den Aufgaben und Einnahmequellen eines mittelalterlichen Scharfrichters. Auf diesen folgt mit "Fleischschuld" ein vorgetragener älterer Text von Goethes Erben über eine beklemmende Dystopie. Die gedrückte Stimmung wird auch durch den Wechsel zu Frau van Org nicht aufgehellt, die nach weiteren Fakten zu Gewalt gegen Frauen mit "Somnio" ein akustisches Stück ihrer Band Lucina Soteira zum Besten gibt.
Nach einem erneuten Wechsel steht nun Christian von Aster auf der Bühne. Diesmal gibt es eine kurze Geschichtsstunde über den wahrscheinlich eifrigsten deutschen Henker Johann Reichhart. Die mittlerweile etwas gedrückte Stimmung wird schließlich durch zwei Kurzgeschichten über Narren, Henker, Hexenrichter und Kartoffeln aufgehellt. Zwischenzeitlich sind wieder alle drei auf der Bühne und erzählen teils sehr persönliche Anekdoten zu Gerechtigkeit, familiären Verhältnissen und jugendlichen Missetaten. Nach diesem längeren Teil folgt ein kurzer Faktenblock zu sexueller Gewalt. Dies bildet die Überleitung zur Lesung eines Kapitels aus Luci van Orgs (teil-)autobiografischen Buch Wir Fünf und ich und die Toten.

Luci van Org
Um die Zuschauer nicht mit dieser doch etwas beklemmenden Stimmung in die Pause zu entlassen, folgt eine musikalische Darbietung, bei der alle drei beteiligt sind. Dabei handelt es sich um eine sehr gewöhnungsbedürftige, aber spaßige Cover-Version von "Der Kommissar", die den ersten Teil des Abends abschließt.

Nach einer wirklich kurzen Pause betreten Frau van Org und Herr Henke wieder die Bühne. Dieser zweite Teil konzentriert sich auf den Familien-Aspekt des Programms. Als Einleitung tragen die beiden eine akustische Version von "Orangenschiffchen" vor. Ein, trotz der Erklärung, skurriles Stück, zu dem Herr von Aster mit einem silbernen Tablett durch den Zuschauerraum geht und eben jene Obststücke an die anwesenden Mütter verteilt.
Daran schließt sich wieder eine kurze Runde Statistiken an - diesmal über Familien und Armutsgefährdung. Dies nutzt Christian von Aster als Überleitung zu einer Lesung aus seinem Kinderbuch "Der Nichtnutz", in welcher der Autor einen kritischen Blick auf Konsumverhalten wirft. Obwohl es noch etwas früh dafür ist, folgt ein Gedicht über den "Weihnachts-Dreikampf" - den normalen Wahnsinn bei einer durchschnittlichen Familien-Weihnachtsfeier.
An dieser Stelle übernimmt Frau van Org wieder die Bühne und liefert Zahlen zu Kindersterblichkeit, bevor sie ein weiteres, eher surreales Kapitel aus ihrem aktuellen Buch liest. In der Folge gewähren alle drei sehr persönliche Einblick in ihr Leben - teils lustig, teils beklemmend und teils skurril.

Der Tisch der Wahrheit
Für die Erziehungsberechtigten folgt ein Ratgeber von Oswald Henke. Allerdings ist es nicht empfehlenswert, diese Tipps in der Praxis anzuwenden. Als Ergänzung dazu ist es wieder Zeit für einige Fakten und Statistiken, diesmal zum Thema Körperstrafen.

Als Abschluss des Abends folgt ein weiteres Musikstück - wiederum eine Cover-Version. "Mein Name ist Mensch", ursprünglich von Ton Steine Scherben, lässt viel Interpretationsspielraum und rundet das Programm sehr passend ab.

Damit endet der Auftritt und Das Rind leert sich recht schnell. Dennoch bleiben alle drei Künstler noch eine ganze zeitlang vor Ort, plaudern mit dem verbliebenen Publikum, geben Autogramme und beantworten Fragen. So dauert es tatsächlich doch etwas länger, bis ich mich schließlich wieder auf den Heimweg mache.

Wie war's?

Schee wars!
Wie eigentlich, angesichts der beteiligten Künstler, nicht anders zu erwarten, war Ein Kessel Schwarzes eine sehr ungewöhnliche Veranstaltung. Im einen Moment gab es herzhafte Lacher, und im nächsten erhält die Stimmung durch bedrückende Fakten oder eine tiefgehende persönliche Erfahrung einen herben Dämpfer. Die abwechslungsreiche Mischung aus Musik, Lesung und Plauderrunde war erstaunlich unterhaltsam und hat sehr gut funktioniert. Das die stellenweise doch beklemmenden Themen (und Statistiken) niemandem nachhaltig den Abend verdorben haben ist der große Verdienst der Akteure. 

Dazu trug auch die Chemie zwischen den dreien erheblich bei. Trotz unterschiedlichster Lebensläufe und familiärer Hintergründe, trotz kaum zu vergleichenden kreativen Output passt es einfach zusammen. Die lockere Stimmung auf der Bühne übertrug sich auch auf die Zuschauer und sorgte für gute Unterhaltung - selbst wenn mehr als einmal das Lachen im Halse stecken blieb.
Insgesamt ein sehr schöner, entspannter, lustiger, nachdenklicher und unterhaltsamer Abend in wirklich toller Atmosphäre.

 

Dienstag, 1. Oktober 2024

Madness; Boss Capone & Patsy


[Konzert] Madness
Support: Boss Capone & Patsy
Freitag, 20. September 2024
Palladium; Köln

 

Nachdem mich das letzte Album der "Ska-Berserker" (so eine Musik-Postille Mitte der 1980er) doch sehr angenehm überrascht hat, ist die Vorfreude groß, dass Madness im Rahmen ihrer Tour mit zwei Terminen auch hier Station machen. Wenn man nach C'est la vie geht, sind die Musiker, mittlerweile alles gesetztere Herren jenseits der 60, deutlich ruhiger geworden. Nicht geändert hat sich der teils kritische, teils zynische Blick auf das heimische Umfeld der Londoner. So wurden auf dem Album die Veränderung der Stadt, der Brexit und auch die Auswirkungen von Corona thematisiert. Auf jeden Fall freue ich mich, die Band wieder live sehen zu können!
Die beiden deutschen Tourtermine (die einzigen auf dem europäischen Festland) sind in Köln und Berlin, was die Entscheidung für mich relativ einfach macht. Da mein Zeitplan in den nächsten Wochen ohnehin mit zahlreichen Messen, Konzerten, Lesungen und privaten Terminen vollgestopft ist, wähle ich natürlich den Auftritt in der Domstadt. Nicht nur bin ich vom Büro aus in gut zwei Stunden vor Ort - ich kann anschließend direkt wieder nach Hause fahren. Obwohl mein Entschluss relativ kurzfristig fällt, bekomme ich dennoch problemlos eine Karte für den Freitag im Palladium.

Nachdem mein Arbeitstag bereits um 6 Uhr morgens begonnen hat, verabschiede ich mich schon mittags in den Feierabend. Die Navigations-App verspricht freie Fahrt über die A3, so dass ich tatsächlich noch einen Abstecher in die Kölner Innenstadt einplane. Bis kurz hinter Siegburg verläuft die Reise auch zügig und ereignislos - doch dann geht in einer Baustelle nichts mehr. Eine gute Stunde benötige ich für den Kilometer, an dessen Ende ein LKW Teile der Absperrung mitgenommen hat. Nachdem ich dieses Hindernis passiert habe, läuft der Rest recht entspannt, zumindest bis ich im Kölner Feierabendverkehr lande. Glücklicherweise muss ich nicht direkt in die Stadt, sondern bleibe im rechtsrheinischen Mülheim. Da es immer noch relativ früh ist, ergattere ich einen Parkplatz praktisch genau vor dem Eingang der Halle - so bleibt mir immerhin ein langer Fußmarsch ins nächste Parkhaus erspart.
Gemäß meinem ursprünglichen Plan fahre ich mit der Straßenbahn in Richtung Dom und Innenstadt. In der Hohen Straße drücken sich Horden von Touristen und Einheimischen aneinander vorbei und ich beeile mich, in eine der Seitengassen abzubiegen, um einige Besorgungen zu erledigen. Schwer beladen mit Einkäufen geht es bald darauf wieder zum Hauptbahnhof. Allerdings lasse ich es mir nicht nehmen, bei meiner bevorzugten Imbissbude eine kleine Stärkung zu verspeisen.

Die Location

2-tone-Design
Obwohl es noch eine gute Stunde bis zur Öffnen der Tore hin ist, hat sich bereits eine veritable Schlange vor dem Palladium gebildet, als ich zurückkehre. Ich reihe mich ein und schnell kommt man ins Gespräch. Diese drehen sich um vergangene Konzerte, zu früh verstorbene Musiker oder Vor- und Nachteile der verschiedenen Veranstaltungsorte. Für einen Mitfünfziger, der wenige Meter hinter mir steht, ist dies bereits das achte Auftritt auf der aktuellen Madness-Tour - was ich schon ein bisschen beeindruckend finde. So vergeht die Zeit recht schnell und exakt um 18.30 Uhr beginnt der Einlass.

Es ist für mich das erste Mal in dieser Location und so schaue ich mich interessiert um. Hohe Decken in der Vorhalle, eine geschmackvolle Inneneinrichtung und flinkes Thekenpersonal machen einen sehr guten Eindruck. Mein persönliches Highlight sind allerdings die Toiletten im Keller. Passend zur Musik sind Wände und Boden im klassischen schwarz-weißen 2-tone-Muster gefliest; hinzu kommt ein Waschbecken, das mitten im Raum steht. Der Konzertsaal wirkt ebenfalls recht ansprechend. Eine umlaufende Galerie ist für (wahrscheinlich) geladene Gäste vorbehalten, aber auch so ist die Räumlichkeit gut aufgeteilt. Eine Theke am Hallenrand sorgt für das leibliche Wohl, nur wenige Stahlträger versperren die Sicht und die Lüftung scheint gut zu funktionieren. Schnell sichere ich mir einen Platz direkt an der Absperrung, der einen freien Ausblick auf die Bühne erlaubt.

Der DJ

Stilisch!
Während sich die Halle langsam füllt, steht am linken Bühnenrand, also direkt vor mir, ein älterer Herr im schicken Anzug und lässt die Tonträger kreisen. Hier gibt es ganz klassisch frühen Ska, Rocksteady und Reggae auf die Ohren, aber auch Northern Soul. Er macht seinen Job so gut, dass bereits vor dem Beginn des eigentlichen Konzerts Bewegung in die Besucher kommt. Einige Späßchen mit den Leuten in der ersten und zweiten Reihe lockern die Atmosphäre zusätzlich auf. Kurz vor 20 Uhr wird es Zeit für die Vorband und das Pult wird an die Seite geschoben und er verabschiedet sich von der Bühne.

Nach dem Auftritt von Boss Capone & Patsy folgt während der halbstündigen Umbaupause der zweite Teil des DJ-Sets. Dieser wird ebenfalls maßgeblich durch Musik der 1960er bestimmt, aber es finden auch "modernere" Stücke ihren Weg auf die Turntables. Bei einigen davon handelt es sich um ungewöhnliche Cover, beispielsweise "Das Model" oder "Insane in the Brain". Den Schlusspunkt setzt dann "Jump Around" von House of Pain, bei dem wirklich niemand mehr im ausverkauften Palladium still steht. Anschließend wird der DJ (völlig zurecht) vom Publikum mit Applaus verabschiedet.

Boss Capone & Patsy

Boss Capone kannte ich bisher nur als Frontmann der Jogginganzug-Träger von The Upsessions, die ich schon mehrfach auf verschiedenen Festivals gesehen hatte. Nun also mit neuer Band, anderer Optik und der reizenden Patsy am Mikrofon.

Boss Capone mit vollem Einsatz
Musikalisch geht es mit der Handvoll Stücke des gut halbstündigen Sets auf eine Reise tief zurück in die 1960er. Die sieben Musiker pendeln zwischen entspanntem Reggae und etwas druckvollerem Ska, komplett mit Saxophon und Orgel. Die Rhythmus-Sektion drängt sich dabei nicht in den Vordergrund, sorgt aber dafür, dass die Stücke zuerst ins Ohr und dann in die Füße gehen. Das Zusammenspiel zwischen Sängerin und Sänger funktioniert am besten, wenn sie gemeinsam am Werk sind. Auch außerhalb des Gesangs harmonieren die beiden recht gut und sorgen dafür, dass der Auftritt nicht langweilig wird. Der Schwerpunkt des Sets liegt, angefangen bei "I am the King" über "Here comes the Train" bis zu "Kings & Queens" beim gleichnamigen Album aus dem letzten Jahr. Den Abschluss bildet schließlich "Woman you a Scorpion" von der aktuellen Veröffentlichung Blackfire. Damit verabschiedet sich die Band von der Bühne des Palladium um Platz für den DJ zu machen, der sein Set während der kurzen Umbaupause fortsetzt.
Insgesamt ein Auftritt, der beim Publikum recht gut ankommt und die Wartezeit auf das eigentliche Highlight des Abends angenehm verkürzt.

Madness

Während man auf der abgedunkelten Bühne Bewegungen erahnen kann, läuft auf der großen Video-Leinwand ein Countdown herunter. Schließlich gehen die Lichter an und Suggs McPherson spricht die Worte ins Mikrofon, auf die alle gewartet haben: "Hey you! Don't watch that, watch this...".

Los gehts!
Mit "One Step Beyond", das Stück, mit dem die mittlerweile 45jährige Karriere der Band ihren Lauf nahm, beginnt das Konzert. Dabei werden die sechs Bandmitglieder von drei Bläser und einem Percussionisten unterstützt. Der Titel hat auch nach dieser langen Zeit nichts von seinem Druck und seiner Eingängigkeit verloren. Allerdings hat sich das Tempo ein wenig verlangsamt. Dies tut der Reaktion des Publikums keinen Abbruch - es wird ab dem ersten Ton ausgelassen gefeiert. Es folgen mit "Embarrassement" und "The Prince" ältere Stücke der frühen Alben.
Mit "C'est la Vie" folgt der Titeltrack des aktuellen Longplayers - der es tatsächlich auf den ersten Platz der britischen Album-Charts geschafft hat. Lee Thompson hat merklich Spaß an seiner Arbeit am Saxophon und gibt praktisch den Alleinunterhalter. Das Zusammenspiel der Rhythmussektion mit den Bläsern sorgt hier für einen interessanten Kontrast, der gelegentlich durch extensive Keyboard-Parts unterbrochen wird.
Mike Barson an den Tasten nimmt auch beim folgenden "NW5" eine herausragende Rolle ein. Die lockere Instrumentierung kann nicht ganz über die leicht melancholische Grundstimmung hinwegtäuschen. Aber ich freue mich, dass es ein Track meines Lieblingsalbums in die Setlist des Konzertes geschafft hat. Es folgen mit "My Girl" und "The Sun and the Rain" wiederum ältere Stücke, beide nicht unbedingt typische beschwingte Partymusik und mit ernsteren Texten. Das Live-Arrangement setzt andere Schwerpunkte als die Originalaufnahmen - was sehr gut funktioniert.

Lee Thompson gibt alles
Glücklicherweise hat es auch mein ganz persönliches Highlight vom neuen Album in die Setlist geschafft. Eigentlich passt "Hour of Need" gar nicht zu einer Band, die sich ihren Namen mit locker-leichten, aber häufig hintersinnigen Liedern gemacht hat. Für mich eines der emotionalsten Stücke, die ich seit langer Zeit gehört habe - und mein heimlicher Höhepunkt des letzten Albums. Die etwas gedrückte Stimmung wird sofort durch "Wings of a Dove" und "Lovestruck" aufgehellt, beide wieder aus frühen Veröffentlichungen.
Praktisch nur auf Percussion und Bläser setzt "Run for your Life". Im Prinzip besteht das Stück aus einer Aufzählung von Katastrophen angefangen beim Brexit, über den Klimawandel, Corona und den Krieg in der Ukraine. Trotzdem bleibt bei dem Rhythmus eigentlich keine andere Wahl, als mitzuhüpfen. Ein Blick nach hinten zeigt, dass es mir damit nicht alleine so geht.
Danach folgt ein Ausflug weit zurück in die Bandgeschichte - allerdings nicht 126 Jahre, wie Sänger McPherson behauptet. Bei "Bed and Breakfast Man" und "Shut Up" erweist sich das Publikum als textsicher und singt lautstark mit. Hier ist noch der typische "nutty sound" zu hören, der Madness von anderen Ska-Gruppen der Zeit abhob. Mit "Taller Than You Are" kommt sogar eine gepflegte Rocksteady-Nummer vom Dangermen-Album, mit dem die Band auf Spurensuche in den 1960er ging. Hier sind es das wild orgelnde Keyboard und die harmonischen Bläsersätze, die im Gedächtnis bleiben. Schließlich folgt ein Lobgesang auf "Mr. Apples" - einen typischen Vertreter der britischen Oberschicht. Danach verlassen die Bandmitglieder, von den Herren Foreman und Woodgate abgesehen, die Bühne. Chris Foreman übernimmt das Mikrofon und plaudert in gewöhnungsbedürftigem Denglisch mit dem Publikum. Anschließend gibt er eine recht spezielle Karaoke-Version von "Highway to Hell" zum besten.
Suggs McPherson

Nach diesem kurzen Intermezzo kommt die Band wieder auf die Bühne und legt mit "House of Fun", "Baggy Trousers" und "Our House" richtig los. Alle drei Stücke haben nichts von ihrem Schwung verloren und das Publikum erweist sich, wenig überraschend, sowohl als textsicher, wie auch tanzfreudig. Sicher wäre ein Madness-Konzert ohne dieses Hattrick nicht denkbar - unbestreitbar der Höhepunkt des Abends. Deutlich ruhiger geht es dann mit "It must be Love" weiter - bei dem schließlich die Besucher den Gesang übernehmen dürfen. Damit verabschiedet sich die Band erneut von der Bühne. Nur um kurz darauf wieder zu kommen und die Zugabe zu spielen.
Mit "Madness" vom Debüt-Album wird das Publikum noch einmal diskret hingewiesen, wer hier auf der Bühne steht. Erneut ist es ein Saxophon-Solo, das hervorsticht. Das Stück geht nahtlos in einer SEHR ungewöhnliche und lange Version von "Night Boat to Cairo" über, mit der die Band gerne Konzerte beendet. So ist es auch in diesem Fall und nach fast 90 Minuten verlassen die Musiker endgültig die Bühne.

Eigentlich ist mein Plan, mich direkt auf den Heimweg zu machen, da ich am nächsten Tag noch einige Dinge erledigen muss. Doch kurz vor dem Ausgang treffe ich Bekannte aus dem benachbarten Düsseldorf, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe. So folgt ein längerer Abstecher an die Bar - an der immer noch Gedränge herrscht. Es ist nach Mitternacht, als ich mich schließlich müde, aber glücklich, hinter das Steuer meines Wagens setze.

Wie war's?

Um es kurz zu machen: Ein rundum gelungenes Konzert in einer hübschen Location. Zumindest für mich direkt an der Bühne war der Sound recht gut. Über den Klang im Rest des Saales habe ich im Nachgang unterschiedliche Meinungen gehört. Der Stimmung im Publikum hat dies jedoch keinen Abbruch getan. Praktisch die ganze Zeit (auch beim DJ und der Vorband) war Bewegung - obwohl auf wilde Skankin'-Exzesse verzichtet wurde. Das mag natürlich dem Alter der Besucher geschuldet sein, aber auch der vollen Halle.

Eine kleine Gedächtnisstütze
Die Auswahl der Setlist pendelte zwischen einem (zwangsläufig) abgespeckten "Best Of" und einem Einblick in das aktuelle Album. Dazwischen fand die Band immer wieder Platz, um Stücke von jedem der 13 Alben unterzubringen. Natürlich sind 90 Minuten viel zu wenig, um alle wichtigen und bekannten Titel zu berücksichtigen. So haben mir letztendlich doch ein oder zwei meiner persönlichen Favoriten gefehlt, aber damit kann ich gut leben. Bei der Band hatte ich nicht den Eindruck, dass sie einfach nur ihr Set herunterspielen, sondern mit Spaß an der Sache dabei sind. Während sich die Herren Barson, Woodgate und Bedford weitgehend im Hintergrund halten, spielt sich Gitarrist Chris Foreman im wahrsten Sinne des Wortes öfters ins Rampenlicht. Saxophonist Lee Thompson sorgt in wechselnden Outfits und seinen häufigen Positionswechseln für einige Lacher. Sänger Suggs McPherson kommentiert fast jedes Stück mit kurzen Sätzen, und sucht die Kommunikation mit dem Publikum. Stimmlich hakt es zwar an manchen Stellen ein wenig, aber darüber lässt sich gut hinweg sehen. Insgesamt eine sehr ordentliche Leistung, die die sechs Herren (eigentlich schon im Rentenalter) hier abliefern.